Montag, 28. Oktober 2013

Tessin



In meiner Jugend war ich Gitarrist in einer Band. Wir waren hauptsächlich fünf Kumpels, aber wir waren auch eine Band. Da wir, unseren persönlichen Geschmäckern entsprechend, weder die reine Punk- noch Metalschiene gefahren sind (wie dies ca. 90% aller lokalen Nachwuchstruppen überall praktizieren), weckten wir relativ schnell das gesteigerte Interesse jener, die in Stralsund und Umgebung sowohl Konzerte besuchten als auch einen gewissen Anspruch dorthin mitbrachten. Diese 15 begeisterten Hörer reichten für einen gewissen Local Hero-Status.
Da die Möglichkeiten, wie man sich unschwer ausmalen kann, in solch einer dünn besiedelten Gegend an Gigs zu kommen, relativ rar gesät sind, waren wir gezwungen, entweder selbst Konzerte zu veranstalten oder zu hoffen, sich anderen Bands menschlich und/oder musikalisch so sehr anzunähern, dass diese einen zu ihren selbstorganisierten Events einluden.
Letzteres geschah irgendwann, ich müsste so 16/17 gewesen sein, mit irgendeiner mittelmäßigen Crossoverband, ich hab leider ihren Namen vergessen, die auf einem gemeinsamen Gig relativ begeistert von uns war. Die hätten da so eine Halle in Tessin, irgendwo in Mecklenburg, und machen da in 3 Wochen was (in diesem Landstrich denkt man veranstaltungstechnisch tatsächlich in solchen zeitlichen Dimensionen), ob wir nicht Bock hätten, einige andere Bands wären auch dabei.
Natürlich hatten wir das, wie jedes Wochenende, wir hatten schließlich, nunja, nicht so wahnsinnig viele andere Dinge zu tun. Rückblickend vielleicht eine der besten Zeiten meines Lebens.

Try her philosophy, try her philosophy, try her philosophy, try!

Auf der Fahrt nach Tessin, die erstaunlich lang war, hatte unserer Drummer unglücklicherweise nur eine einzige CD mit. Das erste System Of A Down Album, das erstaunlich kurz war. Nach drei CD-Durchläufen an der Location angekommen, gut 2 Stunden vor Konzertbeginn, stellte sich heraus, dass die dortige Anlage keine einzige der gebrannten CDs des ansässigen Soundtypens abspielen konnte, so dass die System Of A Down unseres Drummers den einzigen abspielbaren Tonträger in der näheren Umgebung darstellte.
Während drei weiterer CD-Durchläufe also hingen wir backstage mit den anderen Bands ab, alle im Schnitt 10 Jahre älter als wir, und fanden das alles ganz aufregend. Der langhaarige Sänger und Gitarrist der einen Stralsunder Band war ganz gut auf mich zu sprechen, weil er eine Zeit lang meine 10 Jahre ältere Schwester gevögelt hat, was sie denn so mache, ich könne ja mal grüßen. Wenn er anfängt zu singen, geht mein Herz auf, hat sie damals immer gesagt. Ein mal hatte er eine VHS-Kassette eines Auftritts seiner Band mit zu uns nach Hause gebracht und wir haben uns dann bei Kaffee und Kuchen gemeinsam mit unseren Eltern eine geschlagene Stunde lang diesen Stonerkram reingezogen. Rückblickend betrachtet eine der absurdesten Situationen, die ich je erlebt habe. Dass ich allerdings einige Jahre später selbst der langhaarige Gitarrist einer Band bin, die an diesem Tag im Vorprogramm jener Band spielte, deren Sänger und Gitarrist einige Jahre zuvor meine 10 Jahre ältere Schwester vögelte, spricht Bände ("Prägung", Band I bis VI). Seine Stralsunder Band existiert übrigens noch heute.
Der Hauptact war eine Rügener Punkband namens COR, durchaus von überregionaler Bekanntheit. Da hat man mit seinen 16 Jahren gerade so für sich herausgefunden, was man eigentlich unter Coolness versteht bzw. wie man diesem Ideal näher kommt, und dann sitzt man mit diesen völlig verlebten Insulanerpunks zusammen, starrt ungeniert auf ihre Tattoos und muss innerlich laut ausgröhlen, wenn sie ihr Lübzer mit den Zähnen öffnen. So lauschten wir den Geschichten dieser Typen und stimmten nebenbei unsere Gitarren, während im Hintergrund ein weiteres Mal System Of A Down durch die Halle ballerte. Nicht viele andere Gleichaltrige kamen in vergleichbar exklusive Situationen, das war uns bewusst.

Sugar!

Unsere Band, als Newcomer, hat den Abend eröffnet. Während wir also auf die Bühne kamen und unsere Instrumente anschlossen, sah ich, dass die knapp 50 Besucher dieses Konzertes in irgendeiner Halle in einem Kaff irgendwo in Mecklenburg sämtlich bespringerstiefelt und kahlköpfig aussahen. Oh, dachte ich, noch viel mehr Dinge dachte ich, was man sich als langhaariger Jugendlicher mit Dreadlocks aus Nordvorpommern nun mal so denkt, wenn man mit einer signifikanten Anzahl bespringerstiefelter, kahlköpfiger Männer konfrontiert wird. Ok, cool bleiben, einfach mal den ersten Song spielen. Den ersten Song spielen und, wie auch nach allen anderen, tosenden Applaus ernten! Zwei Zugaben wurden sich ebenfalls eingefordert. Die Jungs standen auf uns, moshten ein bisschen, hatten Spaß. Wir verließen die Bühne, waren verwirrt und der Soundtyp drückte ein drölftes Mal auf Play.

Das war der Tag, an dem ich mir die erste System Of A Down bis heute überhörte und an dem ich lernte, dass man Nazis nicht mit Skinheads verwechseln soll.

3 Kommentare:

  1. Danke für diesen Text. Er hat mich an diese einen Sommerferien erinnert, als ich 15 war und COR auf allen Festivals in Norddeutschland folgte. Im Nachhinein betrachtet, der beste Sommer meiner Jugend!

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  2. ach ja... sehr schöne zeiten waren das! danke für dieses stückchen jugend, war vorübergehend 11 jahre jünger ;-)
    le Mo

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    1. Mo, erinnerst Du Dich an den Namen der Band? Mir schwebt nur noch dieser eine Song vor Ohren ... "Primitive! Hip hip, hip bedidelip dip. Primitive!"

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