Mittwoch, 30. Oktober 2013

Mama hat was ganz blödes gemacht



Eines Tages holte mich mein Vater von der Schule ab. Siebte und achte Stunde Sport, danach fuhr kein Bus mehr aus dem Kaff meines Gymnasiums ins Kaff meines Elternhauses. Wir hatten am selben Tag Geburtstag, mein Vater und ich, und waren dementsprechend, was auch immer man von Sternzeichengelaber an sich halten möge, vom selben schweigsamen Schlag und uns eigentlich auch sonst recht ähnlich. Nach fünf wortlosen Minuten Antenne Mecklenburg-Vorpommern sagte er, den Blick nicht von der Windschutzscheibe wendend, Mama hätte etwas ganz blödes gemacht. Dieser Ton in seiner Stimme war ungewöhnlich, eine seltsame Mischung aus Bedauern und Empathie. Er erklärte, dass sie meinen Schreibtisch aufräumte, inklusive sämtlicher Schubladen, was ich eigentlich schon seit einem halben Jahr hätte machen sollen, jaja, mach ich ja, irgendwann. Ohne es direkt auszusprechen, war mir klar, was er mir mitteilen wollte: Dass sie mein über Jahre gesammeltes Konglomerat an Wichsvorlagen fand. Ohne es auszusprechen war auch ihm klar, dass ich es verstand.

Scheiße.

Etwa sechs oder sieben Jahre später, mein Vater war längst verstorben und ich zum Studium weggezogen, half ich meiner Mutter beim Entrümpeln unseres Hauses. In einem der Schuppen fand ich seine Modelleisenbahnen - alte Berliner TT-Spuren; Dampfloks, Waggons, Schienen, alles drum und dran. Kindheitserinnerungen kamen auf und ich entschloss mich, das ganze Zeug mitzunehmen, wer weiß, irgendwann bin ich auch mal 50 und hab vielleicht Bock darauf, was man in einem solchen Kurzschlussmoment der Nostalgie halt denkt. Ein paar Bücher waren auch dabei, technischer Kram über die Elektronik des Schienennetzes und so'n Zeug. Praktisch, dachte ich, hab ja schließlich keine Ahnung davon, guckste mal durch, was man davon noch gebrauchen könnte. Inmitten dieses Stapels Literatur befanden sich außerdem, clever versteckt, zwei uralte Pornohefte. Praktisch, dachte ich, guckste später mal durch, was man davon noch gebrauchen könnte.

Später also, allein in meinem alten Jugendzimmer, versuchte ich, diesen Zeitschriften irgendeinen Nutzen abzugewinnen. Mit zunehmender Dauer jedoch wurde mir klar, dass das nichts wird. Diese 80'er Bräute mit ihren Dauerwellen, um Himmels Willen, so sah meine Mutter auch mal aus als ich klein war. Und dann diese Behaarung überall und diese wahnsinnig natürlich aussehenden Brüste auf leicht vergilbtem Papier. Wie degeneriert bist du eigentlich, dachte ich, dass dich sowas nicht anmacht, deine Freundin hat schließlich auch Intimbehaarung und natürliche Brüste. Aber es ging hier nicht um Sex, es war eine Wichsvorlage, und da ist man heute mit anderen Ansprüchen sozialisiert worden, so merkwürdig das auch ist. Doch das Grundproblem war, und das wurde mir erstaunlich spät bewusst, der Gedanke, dass sich mein verstorbener Vater irgendwann mal diese Hefte kaufte, und dass sich mein verstorbener Vater irgendwann mal dazu einen runterholte.

Nie wieder in meinem Leben verschwand eine Erektion so schnell. Was blieb war Scham und Entsetzen.

Montag, 28. Oktober 2013

Tessin



In meiner Jugend war ich Gitarrist in einer Band. Wir waren hauptsächlich fünf Kumpels, aber wir waren auch eine Band. Da wir, unseren persönlichen Geschmäckern entsprechend, weder die reine Punk- noch Metalschiene gefahren sind (wie dies ca. 90% aller lokalen Nachwuchstruppen überall praktizieren), weckten wir relativ schnell das gesteigerte Interesse jener, die in Stralsund und Umgebung sowohl Konzerte besuchten als auch einen gewissen Anspruch dorthin mitbrachten. Diese 15 begeisterten Hörer reichten für einen gewissen Local Hero-Status.
Da die Möglichkeiten, wie man sich unschwer ausmalen kann, in solch einer dünn besiedelten Gegend an Gigs zu kommen, relativ rar gesät sind, waren wir gezwungen, entweder selbst Konzerte zu veranstalten oder zu hoffen, sich anderen Bands menschlich und/oder musikalisch so sehr anzunähern, dass diese einen zu ihren selbstorganisierten Events einluden.
Letzteres geschah irgendwann, ich müsste so 16/17 gewesen sein, mit irgendeiner mittelmäßigen Crossoverband, ich hab leider ihren Namen vergessen, die auf einem gemeinsamen Gig relativ begeistert von uns war. Die hätten da so eine Halle in Tessin, irgendwo in Mecklenburg, und machen da in 3 Wochen was (in diesem Landstrich denkt man veranstaltungstechnisch tatsächlich in solchen zeitlichen Dimensionen), ob wir nicht Bock hätten, einige andere Bands wären auch dabei.
Natürlich hatten wir das, wie jedes Wochenende, wir hatten schließlich, nunja, nicht so wahnsinnig viele andere Dinge zu tun. Rückblickend vielleicht eine der besten Zeiten meines Lebens.

Try her philosophy, try her philosophy, try her philosophy, try!

Auf der Fahrt nach Tessin, die erstaunlich lang war, hatte unserer Drummer unglücklicherweise nur eine einzige CD mit. Das erste System Of A Down Album, das erstaunlich kurz war. Nach drei CD-Durchläufen an der Location angekommen, gut 2 Stunden vor Konzertbeginn, stellte sich heraus, dass die dortige Anlage keine einzige der gebrannten CDs des ansässigen Soundtypens abspielen konnte, so dass die System Of A Down unseres Drummers den einzigen abspielbaren Tonträger in der näheren Umgebung darstellte.
Während drei weiterer CD-Durchläufe also hingen wir backstage mit den anderen Bands ab, alle im Schnitt 10 Jahre älter als wir, und fanden das alles ganz aufregend. Der langhaarige Sänger und Gitarrist der einen Stralsunder Band war ganz gut auf mich zu sprechen, weil er eine Zeit lang meine 10 Jahre ältere Schwester gevögelt hat, was sie denn so mache, ich könne ja mal grüßen. Wenn er anfängt zu singen, geht mein Herz auf, hat sie damals immer gesagt. Ein mal hatte er eine VHS-Kassette eines Auftritts seiner Band mit zu uns nach Hause gebracht und wir haben uns dann bei Kaffee und Kuchen gemeinsam mit unseren Eltern eine geschlagene Stunde lang diesen Stonerkram reingezogen. Rückblickend betrachtet eine der absurdesten Situationen, die ich je erlebt habe. Dass ich allerdings einige Jahre später selbst der langhaarige Gitarrist einer Band bin, die an diesem Tag im Vorprogramm jener Band spielte, deren Sänger und Gitarrist einige Jahre zuvor meine 10 Jahre ältere Schwester vögelte, spricht Bände ("Prägung", Band I bis VI). Seine Stralsunder Band existiert übrigens noch heute.
Der Hauptact war eine Rügener Punkband namens COR, durchaus von überregionaler Bekanntheit. Da hat man mit seinen 16 Jahren gerade so für sich herausgefunden, was man eigentlich unter Coolness versteht bzw. wie man diesem Ideal näher kommt, und dann sitzt man mit diesen völlig verlebten Insulanerpunks zusammen, starrt ungeniert auf ihre Tattoos und muss innerlich laut ausgröhlen, wenn sie ihr Lübzer mit den Zähnen öffnen. So lauschten wir den Geschichten dieser Typen und stimmten nebenbei unsere Gitarren, während im Hintergrund ein weiteres Mal System Of A Down durch die Halle ballerte. Nicht viele andere Gleichaltrige kamen in vergleichbar exklusive Situationen, das war uns bewusst.

Sugar!

Unsere Band, als Newcomer, hat den Abend eröffnet. Während wir also auf die Bühne kamen und unsere Instrumente anschlossen, sah ich, dass die knapp 50 Besucher dieses Konzertes in irgendeiner Halle in einem Kaff irgendwo in Mecklenburg sämtlich bespringerstiefelt und kahlköpfig aussahen. Oh, dachte ich, noch viel mehr Dinge dachte ich, was man sich als langhaariger Jugendlicher mit Dreadlocks aus Nordvorpommern nun mal so denkt, wenn man mit einer signifikanten Anzahl bespringerstiefelter, kahlköpfiger Männer konfrontiert wird. Ok, cool bleiben, einfach mal den ersten Song spielen. Den ersten Song spielen und, wie auch nach allen anderen, tosenden Applaus ernten! Zwei Zugaben wurden sich ebenfalls eingefordert. Die Jungs standen auf uns, moshten ein bisschen, hatten Spaß. Wir verließen die Bühne, waren verwirrt und der Soundtyp drückte ein drölftes Mal auf Play.

Das war der Tag, an dem ich mir die erste System Of A Down bis heute überhörte und an dem ich lernte, dass man Nazis nicht mit Skinheads verwechseln soll.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Cinemaxx my ass



Ich war gestern das erste Mal seit mindestens 5 Jahren in einem großen, kommerziellen Multiplex-Kino und erlitt einen mittelschweren Kulturschock.

Das lag nicht an den zahlreichen Müttern, Töchtern und super crazy ausgeflippten Freundinnen, welche, die geschenkte Gala in der Hand, in einer kilometerlangen Schlange vorm Gratissekt-Tresen anstanden, um sich danach irgendeine romantisch-witzige Rotze in der Ladies Night reinzuziehen. Das lag auch nicht am generell schon recht befremdlichen Publikum, das sich gegen 20 Uhr in Kiel Downtown herumtreibt. Allerdings trug das alles sehr stimmig zu dem allgemeinen Eindruck bei, es ginge hier nicht um Kino oder gar "Kultur", in welcher Form auch immer. Es geht hier um Konsum als Selbstwert, und zwar ganz offensichtlich und unironisch. Alles ist groß, hell, bunt, ein Tempel in Plastik verschweißt, und die Massen strömen herein als würden hier kostenlose BILD Exemplare verteilt.

Seitlich an dieser Szenerie vorbeigehend fand ich meinen Platz und genoss den Werbeblock. Ich hatte dabei jedoch nicht das Gefühl, Werbung gesehen zu haben, in dem ein Produkt an sich angepriesen wird. Das waren verkackte Imagekampagnen, die ein bestimmtes Bild einer Marke vermitteln sollen, und zwar direkt zugeschnitten auf ein gleichsam junges wie dummes Publikum. Da werden dann fünf Minuten lang Angestellte von Rügenwalder in den wärmsten Farben und der herrlichsten Natur interviewt, und am Ende denkst du dir, krass, was für ein geiler Job, ich will auch TEEWURST machen, und von dem Geld holst du dir dann 'nen Mini, da passt zwar nix rein, aber das ist ein Friend for Life! Das ist jung, das ist hip, gleich erstickst du am Popcorn, denn es ist in Plastik eingeschweißt.

Womöglich reagiere ich über, weil mir der regelmäßige Brandingterror der TV-Werbung komplett entgeht. Allerdings bin ich gerade deshalb auch sehr dankbar, dieser mehr als beschissenen Form von Input noch bewusst angewidert begegnen zu können.

Jaja, denkt ihr jetzt, das ist alles nichts neues, nur ein bisschen Kapitalismus- und Medienkritik eines Ärgerschlumpfs ohne Fernseher. Aber das alles war nicht wirklich schlimm, lediglich auf eine perfide Art und Weise interessant. So richtig den Abend versaut hat mir dann nämlich Steven Gätjen.

"Mehr als Kino - Die Show vorm Film" heißt das Format, welches Cinemaxx seit Juli 2012 einigen seiner Blockbuster (ich stelle mir dieses Wort immer gesprochen von einem ganz doll dicken Kind vor) voranschiebt. Dort sitzt dann eben erwähnter "Vollblut-Cineast und Filmfan" Steven G., den eigentlich sowieso niemand leiden kann, auf einer Couch, inmitten eines cinema-themed Wohnzimmers, das genau so aussieht, als solle es wie ein cinema-themed Wohnzimmer aussehen, und erzählt ein paar Fun Facts über den Film, auf den zu sehen man sich gerade noch akut gefreut hatte. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, werden die eingespielten Hauptdarstellerinterviews mit reichlich Filmszenen unterlegt, und zwar GESCHLAGENE 2 MINUTEN! Leute, ernsthaft, habt ihr den Arsch offen? Ich gucke mir teilweise nicht mal Trailer vorher an, um mir das Kinoerlebnis nicht zu versauen, und ihr zeigt die spektakulärsten zwei Minuten direkt vor Filmbeginn?!1!
Wie der Pressesprecher dieses Kinodisneylands erklärt, wolle man mit dem Format "einen attraktiven Mehrwert schaffen" und "stimmungsfördernde Beiträge" liefern. Meine Stimmung und vor allem Vorfreude war komplett im Arsch und der attraktive Mehrwert besteht für mich darin, Cinemaxx nie wieder bekackte 12€ in den Rachen zu schieben. Vollhorste.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

A (Perfect) Circle

A Perfect Circle sind nach 10 Jahren zurück auf der Bildfläche. (Dieses alberne Coveralbum zähl ich jetzt mal nicht mit.)

Das heißt, Fans, die damals, mitten in der Pubertät, Tool und APC vergötterten, weil sie sich damit so toll abheben konnten vom minderwertigen Musikgeschmack der Masse, sind heute erwachsen, hören alle nur noch Techno und ab und zu auch mal irgendein Radiohead Album. Fans, die damals Mitte 20 waren, hören heute gar keine Musik mehr, keine Zeit, die Kinder müssen vom Schwimmkurs abgeholt werden und dann muss ja auch irgendwann das Abendessen auf dem Tisch stehen.

Nun also ist diese geniale Supergroup der Jahrtausendwende zurück und releast (nach zweieinhalb Alben!) eine Greatest Hits. Der Aufschrei ist groß, Tooljünger gröhlen ja generell gerne mal AUSVERKAUF! Aber Leute, sagen andere, kommt mal runter, die können nichts dafür, die Plattenfirma hat da so eine Vertragsklausel, und außerdem ist ja auch ein neuer Song drauf. Eine Vertragsklausel für eine Greatest Hits? Ernsthaft? Mir kann niemand erzählen, dass Maynard James Keenan so was unterschreibt. Falls doch, ist ihm offensichtlich mit der Zeit so einiges an Idealen abhanden gekommen.
Aber seis drum. Neuer Output, immerhin! Wäre er wenigstens gut:

A Perfect Circle - By and Down

Freunde, diese ach so progressive Songstruktur kann auch nicht über das billige Keyboard, die abgedroschenen Gitarrenriffs und diese superkitschigen Durschleimharmonien hinwegtäuschen. Vom Drumming, das nicht mal ansatzweise an die Eleganz eines Josh Freese herankommt, ganz zu schweigen.

Und der größte Knaller an der Sache ist ja dieser offizielle Artwork Teaser! Wahnsinn, diese Animationen, dieses Layout! Manchmal seh ich Maynard vor mir, wie er sagt: "Hey, let's release crap, there's my name on it!"

Aber ich bin vermutlich auch nur einer dieser schnell enttäuschten Toolfanboys, die über alles meckern, was nicht irgendwie an die alten Scheiben rankommt. Seis drum. Ich geh jetzt wieder Techno hören. Und vielleicht nachher noch irgendein Radiohead Album.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Versuch eines Weltbilds: Mit Murphy und Hume in der Kassenschlange



Man kann die Bedeutung selektiver Wahrnehmung gar nicht hoch genug einschätzen. Alles, was wir gemeinhin Murphys Law zuschreiben, beruht auf kognitiven Verzerrungen. Schon wieder die Kassenschlange erwischt, die am langsamsten vorankommt. Wie immer! Dass wir die mindestens genauso häufigen Fälle, in denen wir in der "richtigen" Schlange standen, dabei schlicht vergessen, ist uns nicht bewusst. Oh Mann, jedes Mal, wenn ich hier langfahre, steh ich im Stau! Es lassen sich unzählige weitere Beispiele finden.



Ich möchte jedoch noch einen immensen Schritt weiter gehen. Verhält es sich nicht mit sämtlichen Formen religiösen Verhaltens genau so? Beruht nicht alles, was wir gemeinhin als Spiritualität bezeichnen, gleichwohl auf selektiver Wahrnehmung?

Im Speziellen spiele ich damit auf diesen Alltagsdeterminismus an, dem wir irgendwie alle zum Opfer fallen. Wir sehen ständig irgendwelche Fügungen, Kausalrelationen und Das-sollte-so-seins, wo eigentlich nur Welt passiert. Und Welt passiert ohne Hintergedanken. Die Fügungen fügen sich erst in unseren Köpfen. Erst, wenn wir einen künstlichen Zusammenhang zwischen einem beliebigen Ereignis und einer "Folge" herstellen können, nennen wir das Fügung, göttliche Vorbestimmung, Masterplan oder sonstwie. Dieser Zufall sticht dann so heraus, dass wir ihn zu einer völlig mit Bedeutungsgehalt überladenen Regel emporheben. (Hume kommt gerade um die Ecke und winkt mit dem Hut.) Dass in den restlichen 99% von Welt keine derartigen Zusammenhänge sichtbar sind, blenden wir dabei aus, denn das passt nicht in das Konzept eines geordneten, auf Ursache, Wirkung und Sinn hin angelegten Lebens.


(Und da wären wir dann auch bei Gott, Wundern oder ähnlichem metaphysischen Quark.)

Es ist alles immer nur Zufall. Deal with it.

Samstag, 12. Oktober 2013

Tweets des Monats September